“Hamlet” im Thalia Theater, gesehen von Mike Sperber und Henry Toma am 12.11.2010

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Wir starren gespannt auf eine ca. 20m hohe Kleiderwand, vor der auf sonst leerer Bühne ein ausgestopfter Hirsch (der wohl den toten Vater Hamlets repräsentieren soll) und ein Tau zu sehen sind, das lose von der Decke hängt.

Dann beginnt die ununterbrochen quälende musikalische Untermalung (Jens Thomas, Klavier und Gesang): über gebetsmühlenartigen Instrumentalklängen wird gejault. Ein Kind stolpert auf die Bühne und wird von einer dürren alten Frau im Rollstuhl (Polonius, wie sich später herausstellen wird) zurückgepfiffen. Dann Auftriff Claudius und Gertrude. Hamlet ist auch schon da: Ein fetter Mittfünfziger (Josef Ostendorf) sitzt links mit einer Pappkrone auf dem Kopf und einer weiteren im Schoß. Hier deutet sich bereits an, dass später aus dem einen Hamlet ein zweiter steigen wird. Starregisseur Luk Perceval (“Schlachten”) hat dazu im Programmheft folgendes zu sagen:

Ich hatte gelesen, dass Shakespeare als Reinkarnation Buddhas gesehen wird. Ich wollte wissen, was das eigentlich ist, Buddhismus. Letztlich geht es dabei genau um dieses Aufgeben der Dualität. Es geht um Akzeptanz des Leidens, also also auch um Akzeptanz der Dualität. Hamlet kämpft damit, das ist eine Art, das Leben nicht zu akzeptieren.

Also irgendwas mit Dualität. Was genau, wird leider im Laufe der Inszenierung nicht deutlich: Was die Hälften des Hamlets repräsentieren, hat entweder den Schauspielern niemand gesagt, oder es wechselt zu oft, als dass der Zuschauer noch mitkäme. Erschwerend kommt zusätzlich hinzu, dass auch Horatio und der Geist von Hamlets Vater in den beiden Schauspieler Platz finden müssen.

Ansonsten viele Elemente, die postdramatisches Theater kritikkompatibel machen: neben Persönlichkeitsspaltung und -fusion (Hamlet: 2+2, Rosencrantz und Guildenstern sind einer, Ophelia sind vier), Taschenlampen (ansonsten wenig Licht), ein Nackter (der dünne Hamlet), surreale Kostüme (Stelzen, Claudius' Hose geht bis an die Achseln), monotoner Dialog-Singsang, kreative Übersetzung (“Ficken”, “Schwanz”, “Arsch” – Textfassung: Feridun Zaimoglu und Günter Senkel), Sex mit einem toten Tier, Megafon, Spielzeug-Schwerter, zuckendes Performance-Theater, Kinderchor.

Geh ich, oder geh ich nicht?

Die Inszenierung macht einiges richtig, was viele andere Hamlets falsch machen:

  • Gertrude ist eine Sexbombe
  • Claudius sieht besser aus als Hamlet
  • die Inzestszene zwischen Gertrude und Hamlet macht beiden Spaß
  • Hamlet ist ein Arschloch (wenn auch offenbar nicht absichtlich)
  • nur 2h Spielzeit ohne Pause

Das war’s auch schon: Der Rest ist … Seit acht Wochen geistert diese Inszenierung über die Bühne des Thalia Theaters.

Diesen Abend verdanken wir in erster Linie Regisseur Perceval, der uns neben einer selbst für Hamlet-Kenner bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Strichfassung unbeholfen spannungslose, statische Bilder und plumpe Pseudopsychoanalytik präsentiert. (Auch im Programmheft wird deutlich, dass er den Unterschied zwischen “schizoid”, “schizophren” und “persönlichkeitsgespalten” nicht kennt.)

Die Figuren – mit Ausnahme von André Szymanskis Claudius und Gabriela Maria Schmeides Gertrude – agieren durchweg spannungslos und unkonzentriert. Die unsaubere Aussprache wird durch viele Textfehler punktiert.

Das Bühnenbild von Annette Kurz hat Potenzial – die Kleiderwand bietet prinzipiell Platz zum Verstecken und Spionieren – welche die Inszenierung allerdings verschenkt. Zur Strukturierung des zu großen Raums trägt es kaum bei.

Die Beleuchtung (Mark Van Denesse) ist erbärmlich: Meist kommen nur Taschenlampen und Kerzen zum Einsatz, ansonsten wird spärlich und eindimensional beleutet.

Die Kritik hat den Thalia-Hamlet fast einhellig gefeiert (Spiegel, Abendblatt, nachtkritik.de) – wir können uns dies nur erklären mit der Ehrfurcht vor dem vermeintlichen Starruhm des Regisseurs sowie der Verwechslung postdramatisch motivationsentlehrten Theaters mit dramatischer Innovation.