Septimus: Ruhe! Ruhe bis viertel vor Zwölf. Es ist für einen Hauslehrer unerträglich, wenn er beim Nachdenken von seinen Schülern gestört wird.

Augustus: Sie sind nicht mein Lehrer, Sir. Ich besuche Ihren Unterricht aus freiem Willen.

In drei vorigen Postings habe ich mich mit dem Begriff des freien Willens und der Formulierung des Free Will Theorem sowie der Definition der Funktion in der Mathematik beschäftigt. Es ist Zeit, den Beweis zu Ende zu bringen.

In diesem früheren Posting habe ich schon beschrieben, daß Conway und Kochen drei Gesetze aus der Physik benutzen, um das Free Will Theorem zu beweisen. Zwei davon sind aus der Quantenphysik, eins aus der Relativitätstheorie. Letzteres heißt FIN und besagt, daß Information nur mit einer endlichen Höchstgeschwindigkeit von einem Ort A zu einem anderen Ort B übertragen werden kann. (Die Bemühungen des CERN, FIN als falsch zu beweisen, sind ja zum Glück gescheitert.)

Um zu zeigen, warum das relevant ist, zieht Conway eine Analogie zu einem Spiel. Es heißt “20 Fragen” und geht so ähnlich wie “Was bin ich?”: Ein Spieler überlegt sich insgeheim einen Gegenstand. Der andere Spieler darf ihm 20 Ja/Nein-Fragen dazu stellen, um herauszubekommen, worum es sich handelt.

Manchmal merkt der Gefragte, daß der Fragende schon nach zehn Fragen der Antwort gefährlich nahe ist. Er könnte jetzt schummeln, indem er sich einfach einen anderen Gegenstand überlegt und alle weiteren Antworten auf diesen bezieht. Das funktioniert natürlich nur, wenn alle bisher gegebenen Antworten auch zu dem neuen Gegenstand passen. (Sonst kann der Fragende am Schluß des Spiels die Schiebung feststellen.)

Diese Schummeltechnik könnte man von vornherein ausschließen, indem es zwei Gefragte gibt, die sich gemeinsam einen Gegenstand überlegen. Sie werden dann getrennt (wie beim Polizeiverhör also) und getrennt befragt - unter Umständen werden ihnen sogar unterschiedliche Fragen gestellt. Wenn sie also mitten im Spiel den Gegenstand wechseln wollten, müßten sie beide denselben neuen Gegenstand wechseln. In unserer Alltagswelt würde das voraussetzen, daß beide kommunizieren.

In der Welt der Quantenphysik erlaubt uns aber das TWIN-Axiom, ein paar “magischer Zwillinge” herzustellen, die immer dasselbe sagen müssen. Genauer gesagt: Wenn jemand Zwilling A drei frei gewählte Fragen stellt - nennen wir sie X, Y und Z - und jemand anders Zwilling B eine frei gewählte Frage W stellt, und W zufällig eine der drei Fragen X, Y, Z ist, dann muß Zwilling B darauf die gleiche Antwort liefern wie Zwilling A.

Warum so technisch, fragen Sie - warum sagt man nicht einfach, daß beide immer die gleichen Antworten geben müssen? Nun, das kommt noch.

Zunächst einmal müssen wir aber präzisieren, was das obige Szenario mit dem freien Willen zu tun hat: Es gibt ja nicht nur die magischen Zwillinge, sondern auch die beiden Verhörspezialisten, die diese in getrennten Räumen befragen. Angenommen, diese beiden Verhörspezialisten haben freien Willen. Das heißt also, daß sie Entscheidungen treffen können, die nicht von der Vergangenheit abhängen, mithin können sie sich also frei entscheiden, welche Fragen sie stellen.

Das Free Will Theorem besagt, daß unter dieser Prämisse auch die magischen Zwillinge freien Willen besitzen müssen.
Hätten also die Zwillinge keinen freien Willen, so wäre - im Sinne des früheren Blog-Postings - ihre Antwort auf die Frage eine Funktion der Vergangenheit.

Jetzt sagt das Free Will Theorem, daß entweder weder Verhörspezialisten noch Zwillinge freien Willen haben, oder beide. Um den Satz zu beweisen, spielen wir des Teufels Advokat und nehmen an, die Verhörspezialisten hätten freien Willen, die Zwillinge aber nicht, ihre Antworten wären also Funktionen der Vergangenheit.

Wir können vereinfachend annehmen, daß die Vergangenheit für Zwilling A und B sich jeweils aufteilen lassen in die Vergangenheit vor der Auswahl der Fragen und die Auswahl der Fragen:

Vergangenheit ->  Auswahl der Fragen -> Antworten
--------------------------------------------------- >
                                                Zeit

Nennen wir die Vergangenheit von A mal vA, und die drei Fragen, die ihr der Verhörspezialist stellt, X, Y und Z. Dann gibt Zwilling A also auf die drei Fragen die Antworten TX, TY und TZ. Da die Antworten von Zwilling A sich unter unserer Annahme durch eine Funktion FA ausrechnen lassen, sieht das so aus:

TX = FA(vA, X)

TY = FA(vA, Y)

TZ = FA(vA, Z)

Halt, das ist nicht ganz richtig! Wir hatten oben gesagt, daß alle Fragen vor der ersten Antwort festgelegt werden. Damit müssen in jede der obigen Gleichungen auch noch die jeweils anderen beiden Fragen eingehen:

TX = FA(vA, X, Y, Z)

TY = FA(vA, X, Y, Z)

TZ = FA(vA, X, Y, Z)

Die gemeinte Frage ist jeweils fett gedruckt.

Im anderen Verhörzimmer spielt sich mit Zwilling B etwas ganz ähnliches ab, mit dem Unterschied, daß nur eine einzige Frage gestellt wird. Auch Zwilling Bs Antworten sind durch eine Funktion bestimmt, die abhängt von der gestellten Frage W und Bs Vergangenheit vB:

TW = FB(vB, W)

Jetzt wissen wir aber, daß die Zwillinge magisch sind, also auf gleiche Fragen immer gleiche Antworten geben:

TW = TX falls W = X

TW = TY falls W = Y

TW = TZ falls W = Z

Welche der drei Bedingungen zutrifft - ob also W nun die gleiche Frage ist wie X, Y, oder Z, oder eine ganz andere Frage - ist dem freien Willen der Verhörspezialisten überlassen. Da die Vergangenheit vA vor Auswahl der Fragen X, Y und Z passiert ist, ist sie unabhängig von dieser Auswahl - und auch unabhängig von W, die im anderen Verhörzimmer ausgewählt wurde. Entsprechend ist vB von X, Y, Z und W unabhängig. Wir können also uns unterschiedliche Szenarien vorstellen, in denen vA und vB immer jeweils gleich sind, aber die gestellten Fragen immer anders.

Soweit so gut: Das schwierigste wäre geschafft. Damit wir auch den letzten Schritt noch machen können, müssen wir uns wieder daran erinnern, daß es ja nicht um Zwillinge geht, sondern um Elementarteilchen aus der Quantenphysik. Dort stellen wir immer die gleiche Art Frage, indem wir den sogenannten Spin messen, und zwar in einer bestimmten Richtung. Außerdem ist der Spin in diesem Fall immer die Zahl 0 oder die Zahl 1. Die Fragen haben immer die gleiche Form: Welchen Spin hast Du in der Richtung R? Mit anderen Worten reduzieren sich die Fragen X, Y, Z und W auf die Richtung, in welcher der Spin gemessen wird.

Zunächst einmal kommt zu unserem Spiel noch eine Einschränkung hinzu, nämlich daß die Richtungen X, Y und Z jeweils senkrecht zueinander sind. Dann nämlich sagt das SPIN-Axiom, daß unter den Antworten zwei Einsen und eine Null sein müssen. Es gibt also nur drei Möglichkeiten für die Antworten von Zwilling A: TX=0, TY=1, TZ=1 oder TX=1, TY=0, TZ=1 oder TX=1, TY=1, TZ=0.

Jetzt stellen wir uns verschiedene Szenarien vor, in denen die Vergangenheit vor Auswahl der Fragen stets die gleiche ist, nur die Fragen sind anders. Wenn die magischen Zwillinge keinen freien Willen hätten, so wären die Antworten für die gleichen Fragen auch immer die gleichen. (Die Entscheidungen hängen alle von der Vergangenheit und den Fragen ab, und die Vergangenheit ist immer die gleiche.) Das heißt also insbesondere, daß die Antworten von Zwilling B immer die gleichen sein müssen. Jetzt besagt das TWIN-Axiom aber, daß, wenn unter den drei Richtungen, in der Zwilling A gemessen wurde, zufällig die gleiche Richtung ist, in der auch Zwilling B gemessen wurde, die Antworten übereinstimmen. Das heißt aber insbesondere, daß für drei Richtungen, die senkrecht zueinander sind (wie die Richtungen X, Y und Z, in denen Zwilling B gemessen wird), auch Zwilling B immer mit zwei Einsen und einer Null antwortet.

Wir fassen zusammen: Angenommen, Zwilling B hat keinen freien Willen, dann:

  1. ist der Spin in einer Richtung nur eine Funktion ausschließlich der eigenen Vergangenheit und der Richtung, in welcher der Spin gemessen wird, und …

  2. liefert Zwilling B bei drei verschiedenen Richtungen immer zwei Einsen und eine Null.

Das ist aber unmöglich.

Wie bitte? Warum das denn? So mögen Sie vielleicht fragen. Der Grund ist dieser: Es ist nicht möglich, eine Funktion zu definieren, die abhängig von einer Richtung immer eine Zahl 0 oder 1 so produziert, daß bei drei zueinander senkrechten Richtungen zwei Einsen und eine Null dabei ist. Der Beweis hierfür sprengt den Rahmen eines Blog-Postings, aber es sei verraten, daß Conway und Kochen insgesamt 33 Richtungen auf einen Würfel aufmalen (prinzipiell stehen ja unendlich viele zur Verfügung), und sie feststellen, daß es schon bei diesen 33 Richtungen nicht möglich ist, diese jeweils mit 1 und 0 so zu beschriften, daß diese Bedingung erfüllt ist. Grafisch dargestellt ist das z.B. auf dieser Seite. Zwilling A schummelt also, und Zwilling B können wir darauf festnageln.

Das heißt, aus der Annahme, daß die Verhörspezialisten freien Willen haben, die magischen Zwillinge aber nicht, folgt ein Widerspruch: Die Annahme kann also nicht stimmen. Damit ist - zack - das Free Will Theorem bewiesen.

Natürlich haben wir so einige Details nicht ausführlich erläutert. Zum Beispiel ist wichtig, daß die Antworten von Zwilling A nicht von der Vergangenheit von Zwilling B beeinflußt werden können und umgekehrt: Dafür sorgen bei der Polizei die getrennten Verhörzimmer. Beim Free Will Theorem sorgt dafür das Axiom FIN, das sagt, daß man beide Zwillinge nur weit genug voneinander trennen muß, und schon kann die Information über die Vergangenheit nicht mehr schnell genug zwischen A und B vermittelt werden.

Es gibt noch weitere Einwände, die man erheben könnte, zum Beispiel:

  • Die vereinfachte Darstellung oben tut so, als könnte nach der Auswahl der Richtung(en) durch den Verhörspezialisten nichts mehr passieren. Was aber wenn doch etwas passiert?

  • Das Free Will Theorem bedient sich sowohl der Quantenphysik als auch der Relativitätstheorie, zwei physikalischer Theorien, die in der Physik, so sagen manche, noch nicht zufriedenstellend miteinander integriert wurden. Vielleicht ist also die Kombination aus SPIN, TWIN und FIN gar nicht konsistent, führt also ihrerseits zu einem Widerspruch?

Wer neugierig auf die Antworten zu diesen Fragen ist, sollte aber endgültig das Paper lesen oder die Vorlesungsvideos anschauen.